Mittwoch, 20. Oktober 2010

WESER KURIER, 20.10.2010


Natur erobert die Stadt zurück
Pflanzen und Tiere siedeln sich nach und nach auf Brachflächen an

Von York Schäfer Bremen. Das strahlende Gelb hebt sich ab vom steinigen, grau-schwarzen Untergrund. Wie leuchtende Miniaturlämpchen auf verbrannter Erde wirken die Blüten der kleinen struppigen Pflanzen hier auf der Brachfläche hinter dem alten Güterbahnhof. Die ehemaligen Gleisbetten auf dem kargen Gelände mitten in der Stadt wurden mit Schottersteinen zugeschüttet, dazwischen wuchert das sogenannte schmalblättrige Greiskraut, in den 1960er Jahren eingewandert aus Südafrika. Keck und grellgelb sprießt es hervor, als wäre der Sommer nicht schon längst vorbei.

Brachflächen, auf denen sich die Natur ihren Raum langsam zurückerobert, Zwischenorte von Stadt und Land, gibt es einige in Bremen. Das Areal um den Neustädter Güterbahnhof gehört dazu oder der Industriepark in Oslebshausen. Dieser Ort hier liegt zentral in City- und Bahnhofsnähe, um die zehn Hektar dürften es sein, eingezäunt von der Hochstraße Richtung Walle, den Bahngleisen der Strecke Bremen-Oldenburg und den Türmen eines Müllentsorgungsbetriebes.
"Die Eingrenzung zwischen Straße, Bahn und Gewerbe macht das Gebiet unattraktiv für weitere Ansiedlungen. Es ist nur mit großem Aufwand erschließbar", sagt der Bremer Raumplaner Oliver Hasemann. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich im vorderen Bereich des Geländes nach langem Hickhack mit der Stadt die Bewohner eines alternativen Dorfes mit ihren Bauwagen niedergelassen haben. Hasemann kennt das Gelände gut. Im vergangenen Jahr hat der 35-Jährige mit einer Gruppe von Urbanisten hier das vierwöchige Festival "AufAuf" mit Konzerten, Lesungen und Kunstaktionen veranstaltet, um das Areal zu nutzen und bekannter zu machen.
Der Raumplaner war vor vier Jahren auch Mitbegründer des Autonomen Architektur Ateliers (AAA), das seitdem urbane Spaziergänge an eher ungewöhnliche Stadtorte jenseits von Roland, Rathaus und Weserstadion anbietet. "Es geht um das zweite Hinschauen", sagt Hasemann. Um mehr Bewusstsein für die Stadt als Lebensraum einschließlich ihrer Schmuddelecken und Schattenseiten.
Wandert man auf dem Güterbahnhofsgelände weiter, wird die Vegetation dichter, die Pioniergewächse wuchern prächtig, bis zu sechs, sieben Meter hohe Birken haben sich ausgebreitet. "Die kommen auf solchen Brachen immer zuerst", weiß die Landschaftsökologin Ute Schadek, die sich für ein Forschungsprojekt der Universität Oldenburg mit derartigen Stadtbrachen beschäftigt hat.
Das erwähnte gelb blühende Greiskraut aus Südafrika zum Beispiel hat sich über den Import von Baumwolle in die Häfen Bremens und des Ruhrgebietes und von dort entlang der Bahnstrecken verbreitet. "Die Vielfalt an Flora und Fauna auf solchen Brachflächen ist wegen der dort oft schnell wechselnden Umweltbedingungen zwischen sehr feucht und sehr trocken recht vielfältig", erklärt die Ökologin.
Ute Schadek spricht von "Rote Liste-Arten", Tieren und Pflanzen, die sehr selten vorkommen oder vom Aussterben bedroht sind - und wahrscheinlich ein rotes Tuch darstellen für jeden Gewerbeansiedlungsplaner. Zum Beispiel ein Insekt mit dem schönen Namen "Blauflügelige Ödlandschrecke", eine im Nordwesten seltene und geschützte Heuschreckenart, die sich auf dem 140 Hektar großen Areal des Bremer Industrieparks in Oslebshausen verbreitet hat. Sieben Jahre seien derartige Flächen nach der Erschließung für wirtschaftliche Zwecke geschützt, sagt Ökologin Schadek, danach könnten neue Konflikte mit Naturschützern ins Haus stehen.
Das von der Wirtschaftsförderung Bremen (WFB) verwaltete Gewerbegebiet in Angrenzung an die Stahlwerke von Arcelor Mittal wurde seit Mitte der 1990er-Jahre für viel Geld vom Land Bremen erschlossen. Heute sind davon gerade einmal 30 Hektar verkauft.
Dabei ist die Infrastruktur für gewerbliche Ansiedlungen auf dem erschlossenen Ödland durchaus gegeben. Es gibt Straßenanschlüsse, Leitungen für Wasser, Strom und Kommunikation. "Der Großinvestor kann jederzeit vor der Tür stehen", sagt Oliver Hasemann mit leicht ironischem Unterton. Was es aber aber auch gibt, sind Rehe, Füchse, Turmfalken und Marder, vielleicht sogar Dachse an den schmalen, von hohem Schilf umwucherten Kanälen. Die Natur ist zurück. Auf dem ungleich größeren Nachbargelände der Stahlwerke ist sogar ein Jagdpächter unterwegs. Eine Begehung wollte Arcelor Mittal nicht gestatten.
Schon bei der Fahrt zum Industriepark durch dieses Niemandsland zwischen Urbanität und Naturidyll, fällt etwas abgelegen rechts der Straße das fast verwunschen in einer überwucherten Stadtwildnis liegende alte Verwaltungsgebäude von Arcelor Mittal auf. Im Mai 2007 sind die Stahlwerke als Mieter aus dem postmodernen 80er-Jahre-Gebäude ausgezogen, seitdem erobert sich die Natur auch hier mit erstaunlichem Tempo das Areal zurück. Auf dem ehemaligen Parkplatz sprießt das Unkraut zwischen den Pflastersteinen hervor, ein dichter grüner Wall umsäumt das Haus. Am Eingangsbereich türmt sich der Glasbruch, seitlich davor steht eine rostige Skulptur aus Stahl wie ein Mahnmal an vergangene Zeiten. "Als die Kunst noch schwer war", kommentiert Oliver Hasemann.
Mit verführerischem Glanz spiegelt sich das Sonnenlicht auf der Glasfassade des Gebäudes. Ein fast idyllischer Ort mit kleinen Wiesen voller Gräser, Büsche und Bäume und einem Miniatursee dahinter. Aber auch ein Ort, der durchsetzt ist vom Charme der Verlassenheit und des Verfalls wie in einer postapokalyptischen Filmkulisse. Aber aus derartiger Romantik wird wohl nichts. Ein Sprecher der Stahlwerke spekuliert, dass das Gebäude wohl abgerissen wird. Eine Sanierung sei zu teuer. Eigentlich wäre es schade drum.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Bremer Nachrichten Seite: 10 Datum: 20.10.2010, Bericht von York Schäfer, Fotografie von Marcus Reichmann

4 Kommentare:

martin_unendlich hat gesagt…

Hab für Leipzig einmal eine ganz ähnliche Geschichte gemacht:
http://www.kreuzer-leipzig.de/magazin/1384

In München wurde ein solches Brache-Biotop tatsächlich unter Naturschutz gestellt:
http://www.lbv-muenchen.de/Arbeitskreise/Biotope/Biotope.innen1/berg.amlaim.htm

martin_unendlich hat gesagt…

Im Artikel über München steht zwar, das Gelände habe keinen Schutzstatus. Bei einer Führung Anfang September wurde allerdings behauptet, es werde demnächst zum geschützten Gebiet. Interessant wäre vielleicht noch zu erwähnen, dass diese Areale nur in einem bestimmten Stadium ökologisch wertvoll sind. Wenn mehr Birken kommen und sich die Vegetation dadurch langsam in einen Wald verwandelt, ist es mit der Artenvielfalt vorbei.

Daniel Schnier hat gesagt…

Hallo Martin! Ach was, klasse. Clemens Haug hat den Bericht im Kreuzer geschrieben? Toll! Liebe Grüße nach Leipzig.

Demnächst haben wir hier eine Ausstellung in der www.ABFERTIGUNG.de von und mit LeipzigerInnen.

http://www.wirwolltenunsmalvorstellen.de/

Anonym hat gesagt…

Das mit der Wertigkeit von Biotopen ist uns auf unseren Spaziergängen auch schon mehrfach untergekommen. In der Hemelinger Marsch liegen die (hochwertigen) Ausgleichsflächen direkt neben dem Gewerbegebiet und irgendwelche Galloway Rinder müssen den Bewuchs niedrig halten, um die Qualität des Ausgleichsgebiets hochzuhalten. Witzigerweise lässt die Aurelis regelmäßig Bäume auf ihren Bahnbrachen fällen, um Baumschutz zu umgehen, erzeugt aber so quasi teils hochwertigere Biotope.
Oliver