Freitag, 16. September 2011

Weser Kurier, 15.09.2011

Walle, ganz natürlich

Von Anke Velten

Walle. Üblicherweise beschäftigen sich Architekten mit bebautem oder zu bebauendem Grund und Boden. Bei der Fahrradtour, zu der das "Autonome Architektur Atelier" am vergangenen Sonntag eingeladen hatte, ging es allerdings um Orte, die tunlichst nicht zugebaut werden sollen. Das "bunte Grün" in der Stadt wollten sich die rund dreißig Teilnehmerinnen und Teilnehmer einmal näher anschauen. Und dazu hatten die Organisatoren ausgerechnet nach Walle eingeladen - einem Stadtteil, mit dem Uneingeweihte nicht sofort seine Grünflächen verbinden.

Große Distanzen musste dabei niemand zurücklegen, denn die Natur liegt in Walle in Reichweite. Wenige Fahrradminuten vom Treffpunkt Bahnhof, ein kurzes Stück entlang des Grünzuges West, eine kleine Reminiszenz: Genau hier, erklärten die Reiseleiter Daniel Schnier und Oliver Hasemann, habe sich einst die Urzelle des Stadtteils befunden - das Dorf Walle, das 1139 erstmals urkundlich erwähnt wurde und das noch Anfang des 19. Jahrhunderts kaum 500 Einwohner hatte. Erkennbar sei der dörfliche Ursprung bis heute an den gewachsenen Wegzügen, die sich von den späteren schnurgeraden Planstraßen optisch unterscheiden, erklärten die Architekten.

Ein wenig abseits, hinter einer niedrigen Bahnunterführung, konnte sich die Truppe von Neugierigen dann in echtes Landleben versetzt fühlen. Am Rande der Waller Feldmark ging es durch einen schmalen Feldweg mit alten, duftenden Obstbäumen und hohen Sträuchern, zu einem Besuch in den "Internationalen Gärten Walle". Unter diesem Titel hat im April dieses Jahres ein Projekt begonnen, das sich der Völkerverständigung verschrieben hat. Auf einem Areal von fast 3000 Quadratmetern können dort Menschen verschiedenster Nationen und Kulturen ganz natürlich in Kontakt kommen, ihre Freizeit miteinander verbringen und die Früchte ihrer Arbeit ernten. Das tat am Sonntagnachmittag zum Beispiel Shahla Langroudi, die sich um ihre Auberginen und Zucchini kümmerte, Kräuter, Bohnen und Chilischoten erntete.

Bunte internationale Mischung

Rund fünfzig Vereinsmitglieder haben sich für die "Internationalen Gärten" zusammengeschlossen, erzählte Vereinsmitglied Christiane Keller, darunter Menschen aus Tunesien, Algerien, dem Iran, aus Indien, Kolumbien und Vietnam; etwa die Hälfte davon packen aktiv zu. Wer hier eine kosmopolitische Gartenschau erwartet, muss noch etwas Geduld haben: Auf dem über Jahrzehnte verwilderten Gelände gibt es für die Gärtnerinnen und Gärtner noch viel zu tun. Doch noch wichtiger als der hortikulturelle Ehrgeiz ist hier das Miteinander. Als eines der sichtbaren Symbole präsentierte Shahla Langroudi einen kleinen Pfirsichbaum namens "Hussein", der erst vor ein paar Tagen gepflanzt wurde: Er ist ein Zeichen dafür, wie sehr sich die Gemeinschaft darüber freute, dass der Asylantrag eines ihrer Mitglieder positiv beschieden wurde, erzählt sie.

Dass Stadtmenschen sich ungenutzter Grünflächen annehmen und so selbst die Stadt mitgestalten, das ist ein Zeichen der Zeit, und eine Bewegung, die in den USA als "urban gardening" ihren Anfang nahm, wie Oliver Hasemann erklärte. Sie habe auch einen pädagogischen Mehrwert: Es sei eine Tatsache, dass immer weniger Stadtkinder aus eigener Erfahrung wissen, wie Obst und Gemüse angebaut werden. Das konnte Teilnehmer Rainer Weisel bestätigen: Er beackert eine Parzelle an der Ochtum, und in der Nachbarschaft gibt es einige ganz junge Parzellisten. "Bei Studierenden ist das wieder sehr beliebt", kann er berichten. Doch die jungen Leute müssen sich mit der Gartenarbeit erst vertraut machen: "Viele haben nie gelernt, wie man mit Saatgut umgeht oder wann sie ihre Früchte ernten müssen."

Die Stückchen Land, die die Stadtbewohner einst beackern durften, um ihre Not zu lindern, sind nicht mehr so gefragt: Gerade in der Waller Feldmark stehen viele Parzellen leer. Vor einigen Jahren war das noch ganz anders, wusste Peter Brodersen zu erzählen: "Da gab es hier viele türkische Familien, die auf den Parzellen ihre Lebensmittel anbauten, wie sie es in der Heimat gekannt und gelernt hatten." Die nachwachsende Generation an Stadtbewohnern allerdings kaufe ihr Obst und Gemüse ein. "Da geht viel Wissen verloren", sagte der Bremer.

Überhaupt keinen Anlass, seine Parzelle am Waller Fleet aufzugeben, sieht dagegen Dietmar Wedemeyer. Er lebt seit 1953 in einem "Kaisen-Haus" und darf das auch bis zum Ende seiner Tage, berichtete er der Fahrradgruppe. Was "Kaisen-Häuser" sind und wie die Stadt den Umgang mit ihren Bewohnern geregelt hat, dazu gab es vor Ort eine kleine Einführung.

Mit besonderem Interesse hörte ein junges Pärchen zu, das erst vor Kurzem aus Dresden in die Bremer Neustadt gezogen war. Die Stadtspaziergänge seien "eine tolle Art, Bremen besser kennenzulernen", fanden sie. Rainer Weisel gehört sogar zur Stammkundschaft der Veranstaltungen: Er habe ein großes Interesse an Stadtsoziologie, erklärte er, und "die beiden sind so erfrischend authentisch".

Die beiden sind die Bremer Architekten Oliver Hasemann und Daniel Schnier, die seit vier Jahren in Kooperation mit dem Verein "ÖkoStadt Bremen" dreimal pro Jahr und zu völlig unterschiedlichen Themen ihre urbanen Spaziergänge anbieten. Ihre kurzweiligen Spaziergänge ziehen nicht nur ein Fachpublikum aus Architekten und Stadtplanern an, sondern auch viele Laien mit Interesse an der Geschichte, Gegenwart und Zukunft ihrer Stadt.

Der nächste "Urbane Spaziergang" wird im Oktober an die Ochtum führen. Der genaue Termin und weitere Informationen finden sich auf den beiden Internet-Seiten www.aaa-bremen.de und www.oekostadt-bremen.de.


© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Weser Kurier Stadtteilkurier West, Seite: 3 Datum: 15.09.2011, Bericht von Anke Velten, Fotografie von Walter Gerbracht

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