Montag, 24. Oktober 2011

WESER KURIER, 24.10.2011

VON VOLKER ALTHOFF Neustadt·Grolland. Von der Bremer Schweiz hat man ja schon mal gehört, was aber nicht heißt, dass die Hansestadt für landschaftliche Höhenzüge bekannt wäre. Und doch haben etwa 40 Bremerinnen und Bremer auf einem Ausflug die „Bremer Alpen“ entdeckt. Einige von ihnen hatten die Hügellandschaft neben der Autobahn 281 noch nie wahrgenommen. Es ist eben ein Ort, wo das Wandern oder Verweilen auf keinen Fall erlaubt ist. 
Andererseits sei hier ein durchaus angesagter Treff für Picknicks, weiß Daniel Schnier vom Autonomen Architektur Atelier (AAA) zu berichten – gleichermaßen beliebt wie illegal. Etliche solcher abseitigen Plätze und Gegenden waren Ziele des Ökostadtspaziergangs durch einen Teil der Neustadt und Grolland. Dazu eingeladen hatten Heiko Franke vom Verein „Öko- Stadt“ und Daniel Schnier sowie Oliver Hasemann vom AAA. Alle drei begrüßten die Teilnehmer an der Richard-Dunkel-Straße unter der Autobahn 281.
Der Rundgang stand unter dem Oberthema „Renaturierung“: „Dabei geht es umdas Verhältnis von Mensch und Natur“, wobei Letztere per Definition als unbeeinflusst angenommen wird. „Jedoch gibt es immer mehr ökologische Gebiete, wo von außen eingegriffen wird“, erklärte Hasemann. Er verdeutlichte der Gruppe den Zusammenhang am Beispiel einer grünen Wiese. „Wenn solch eine Fläche bebaut wird, muss eine andere Grünfläche aufgewertet werden.“ Ausgleichsmaßnahmen heißt das in Bau- und Umweltbehörde.
Andererseits seien viele Biotope, die toll aussehen, in Wirklichkeit verkommen und vernachlässigt. Das meint der Begriff „Grünschattenwirtschaft“, wozu ungepflegte Orte gehören. „Wir wollen Gegenden im Stadtgebiet aufzeigen, wo man sich nicht so gerne aufhält, die unschön sind, belastet durch Industrie oder Verkehr oder sich im Umbruch befinden“, erläuterte Hasemann. Während des Rundgangs werden Zusammenhänge erklärt und Hintergrundinformationen zu den einzelnen Orten gegeben, „aber die Teilnehmer sollen sich aktiv beteiligen“, ermunterte Hasemann die Gruppe zu eigenen Beobachtungen.

Ein erster Blick in Richtung westliche Airportstadt lieferte eine Antwort darauf, wo der Mensch stark in die Natur eingegriffen hat. Dort entsteht nämlich ein ganz neuer Stadtteil. Sehr alt ist dagegen das Fabrikgelände der MDEXX GmbH, die von 1961 bis 2004 eine Tochterfirma der Siemens AG war. Wo in der Zeit des Zweiten Weltkrieges viele Zwangsarbeiter Munition für Waffen herstellten, werden heutzutage Maschinenteile für Transformatoren gebaut.
Vom Gelände aus in Richtung A 281 gibt es einen wunderbaren Blick auf die „Bremer Alpen“, die zwar nicht schneebedeckt sind und Romantik versprechen, aber immerhin grün sind. Ein anderer, vielen unbekannter Ort während der Besichtigungstour war die „Autoinsel“. Dort, hinter dem Einkaufscenter an der Duckwitzstraße, werden Autos auf Lkw geladen und unter anderem nach Riga transportiert.
„Offiziell gehört die Fläche zum Gewerbegebiet, wird aber von der Stadt als Sonderfläche ausgewiesen“, erläuterte Hasemann. Hier komme wieder der Begriff „Grünschattenwirtschaft“ ins Spiel, da der Handel im Stadtgebiet nicht erwünscht sei und deshalb an den Rand verlagert werde – und so der öffentlichen Wahrnehmung entrückt. Vom Einkaufscenter ging es dann ein kleines Stück an der Bundesstraße 75 entlang, bevor die Gruppe ihren Gang unterhalb der viel befahrenen Autostrecke fortsetzte. An der Ochtum entlang ging es zum Platz „der guten Früchte“, der seinen Namen vom Kleingartenverein „gute Frucht“ bekommen hat. Er liegt zwischen Gewerbe- und Parzellengebiet. Von dort aus führte die Route in Richtung Ochtumpark, der an das Flughafengelände angrenzt, und weiter zum Park links der Weser. Mit seinen Grünflächen und kleinen Flüssen sowie Seen gibt es dort Natur pur zum Anfassen und Erleben – „eine Attraktion für Fahrradfahrer, Fußgänger oder Inliner“, so Schnier. Ziel- und Endpunkt der zweieinhalbstündigen Tour war die Straßenbahnhaltestelle Norderländer Straße. Die Resonanz der Teilnehmer war durchgehend positiv. Bärbel Nordbruch aus der Neustadt hat ganz neue Orte entdeckt: „Das Autoareal hinter Real-Kauf habe ich zum ersten Mal gesehen. Interessant sind auch die Gegensätze, die es hier gibt, zum Beispiel auf der einen Seite der Flughafen und gegenüber das Kleingartengebiet." Dieser Meinung war auch Jürgen Döhmann aus der Neustadt, den das Gelände hinter dem Einkaufszentrum mit dem Autoschrotthändler sehr interessierte. „Das war sehr spannend, ich hätte nie gedacht, dass es dahinter noch eine Zuwegung gibt.“ Christa Schaub aus der Neustadt richtete ihr Augenmerk insbesondere auf die Zusammenhänge zwischen Gewerbe- und Naherholungsgebieten. Sie hat beobachtet, dass sich „immer mehr Industriegebiete ausbreiten und Parzellen- sowie Kleingartenräume verkleinern“. Die Orte seien so faszinierend, merkte Jürgen Döhmann an, dass er beim nächsten Stadtteilrundgang wieder mitlaufen würde.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Weser Kurier Stadtteilkurier Links der Weser / SÜD, Seite: 2 Datum: 24.10.2011, Bericht von Volker Althoff, Fotos von Jo Chen und Volker Althoff

Dokumentation und Resumée "Grünschattenwirtschaft - Entdeckungsreise durch die civita ingocnita" vom 16.10.2011






Unser Ausflug in die Grünschattenwirtschaft beschloss am vergangenen Sonntag unsere diesjährige Reihe Urbaner Ökostadtspaziergänge. Bei optimalem Wetter für einen Sonntagsspaziergang konnten wir über 50 BesucherInnen begrüßen, die mit uns eine Expedition in unbekannte Gebiete unternehmen wollten.
Von unserem Treffpunkt an der Duckwitzstraße begaben wir uns entlang der neu gebauten Autobahn und vergessener Eisenbahngleise unter der Bundestraße 6 in Richtung Eisenbahnstrecke Bremen – Oldenburg. Einem Areal also, das von Verkehrssträngen und -strömen geprägt ist. Hier in der Richard-Dunkel Straße befand sich im Krieg eine Munitionsfabrik, deren Gebäude auch heute weiter genutzt werden. Oder zumindest wurden, denn die Firma Mdexx, die hier produziert, will die Arbeitsplätze auslagern an andere Standorte.
Ausgelagert wirkten auch die diversen Autohändler, die sich im Umfeld der Eisenbahntrasse niedergelassen haben. Im Rücken des Einkaufszentrums an der Ochtum haben sie sich auf den Handel mit Fahrzeugen spezialisiert, die aufgrund ihres Alters oder ihres Zustandes ihre Zukunft in eher fernen Ländern haben. Gefühlt befanden wir uns hier in einem unkontrollierten Raum, mit Nutzungen, die an anderer Stelle ungern gesehen sind. Praktisch bedeutet diese mangelnde Kontrolle, die auch Ausdruck einer extensiven Nutzung ist, eine Ausbreitung von Grünflächen.
Über kurze Wege bewegten wir uns an die Vorderseite des Einkaufszentrums. Auf seinem Parkplatz wurde gerade noch ein Flohmarkt abgebaut und die einseitig autolastige Erschließung dieses Areals deutlich. Hier entspann sich überraschend eine Diskussion über die Schaffung von neuen Einkaufsflächen. Zumal von solchen, die nur mit dem Auto erreichbar sind und damit den Möglichkeiten in Stuhr oder Posthausen gleichen. Die Argumente, dass in der Innenstadt neue Angebote notwendig sind, um Kunden zu halten, und gleichzeitig auch an der Peripherie Angebote auf der Grünen Wiese entstehen, überzeugte dabei nicht vollständig.
Diese Diskussion ließ sich auch nicht zu Ende führen, allerdings konnten wir sie schnell hinter uns lassen, denn direkt hinter dem Einkaufsareal standen wir schon im Grünen. Über Brücken und Tunnel ging es in die Kleingärten zwischen Flughafen und Ochtum. Hinter den Obstbäumen waren erste Bürogebäude der Airport Stadt zu erkennen und startende Flugzeuge kreuzten unseren Weg, der schlussendlich in den Park Links der Weser führte. Sehr offenkundig wurde hier, wie schon zuvor an der Ochtum, dass unser subjektiver Begriff von Natur wenig mit der „wirklichen“ Natur zu tun hat. Denn gerade die Kulturlandschaft, also die vom Menschen geschaffene und gestaltete Landschaft erwies sich vor unseren Augen als akzeptierteste Grünlandschaft.
Auf unserem Suche nach Natur und Re(naturierter) Natur, auf unseren Wegen zwischen geplantem und ungeplantem, zwischen gepflegtem und ungepflegtem, zeigte sich insgesamt auf, dass wir unseren subjektiven Eindruck von Natur nicht ablegen können. Wir bedanken uns dafür, dass Ihr uns auf diesen Erkundungen so zahlreich begleitet habt und freuen uns auf kommende Spaziergänge.

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MultiMediAAA-Daten (gps): Thorben Thürmer Bilder: Daniel Schnier Text: Oliver Hasemann